Kratzbürste

Man findet sie überall, diese kratzbürstigen Menschen, die einem, als wäre es nicht sowieso oft schon schwer genug, das Leben zur Last machen. Sie verpassen keine Gelegenheit, um Ihren Unmut kundzutun und verstehen sich bestens darauf, mit einer einzigen Bemerkung jegliche gute Stimmung zu verderben.

Als Ganz-oder-gar-nicht-Mensch ist das für mich im Prinzip kein Problem. Ich mag sie – irgendwie, die notorischen Dauernörgler dieser Welt, weil ihre offenkundige Haltung erahnen lässt, wie zart das andere Extrem ist, das in ihnen steckt. Ich nehme es sportlich als Herausforderung, mich diesen Menschen zu stellen.

Das kann ich gut, so lange kurzfristiger Rückzug eine Option ist. Rückzug hilft mir auch in anderen Bereichen, mich zwischenzeitlich immer neu auf meine eigenen Schwerpunkte zu fokussieren. Interessanterweise ist genau DAS die Basis, auf der ich mich in brenzligen Situationen selbst zurücknehmen kann und nicht unmittelbar das Weite suchen muss.

Mit ihrem Einzug ins Hospiz stellt Frau T. unmissverständlich klar, dass sie keinen Wert auf die Gesellschaft von Menschen legt, die an ihrem Bett rumstehen und nicht wissen was sie sagen sollen. Das ist nicht gerade ermutigend, wenn man bedenkt, dass die Konfrontation mit dem Tod in den allermeisten Fällen zunächst einmal sprachlos macht. Die üblichen, freundlich gemeinten Gesprächsaufhänger „möchten Sie etwas trinken“, „es gibt Mittagessen“, „liegen Sie gut?“ werden barsch abgewiesen. Denen, die hier ihre Arbeit tun MÜSSEN macht sie den Alltag schwer, aber sie verstehen ihr Fach und begegnen ihr mit beständiger Zuwendung und Geduld.

In all dem nimmt die Alte mit ihrer Art bei jeder Begegnung Einfluss auf meine Lachzentrum. Einmal als ich sie frage, ob sie ihre Medikamente genommen habe, antwortet sie, dass das ja wohl notwendig sei, damit „die da draußen“ sie in Ruhe lassen. Ich muss unmittelbar und von Herzen lachen. Das tut gut, sodass ich noch ein bisschen bleiben will, obwohl ich nicht weiß was ich sagen soll. „Ich habe schon verstanden, Frau T.: Ich lasse Sie auch gleich in Ruhe. Aber erst will ich Ihnen noch sagen, dass ich Sie irgendwie mag.“ Sie bedankt sich, als ich das Zimmer wenig später sicherheitshalber doch verlasse. Ich nehme ihr die Dankbarkeit ab, weil sie ehrlich ist.

Und dann, noch bevor es zu Ende geht ist die Kratzbürste tot. Die Ahnung ist zur Gewissheit geworden. Wochenlang hat sie das Bett gehütet und niemanden an sich ran gelassen, jetzt am Ende will sie raus. Wie anders sie aussieht im Rollstuhl im Innenhof. Wie zerbrechlich, wie klein. Völlig erschöpft liegt sie kurz darauf wieder in Ihrem Bett. Ich sitze bei ihr und halte ihre Hand. Behutsam streichle ich ihre Wange und das weiße Haar. Immer mal wieder tupfe ich ihre Augenwinkel trocken. Die Kratzbürste ist tot, aber Frau T. lebt! Sie würde es zweifelsohne äußern, wenn ich sie in Ruhe lassen sollte. Anstatt dessen sagt sie schlicht und sehr ergreifend: „Ich bin zufrieden.“

Wieder weiß ich nicht was ich sagen soll, aber es ist völlig okay. Und so bleibe ich noch ein bisschen und fühle mich wohl in der Gegenwart dieses unendlich zarten Wesens.

 

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